Da das Ersatzteil ja auf sich warten lässt, mache ich heute einen Spaziergang in die Innenstadt von Kassel. Die Strecke dort hin führt mich durch eine schöne Parkanlage. In der Innenstadt angekommen schlägt mir sofort die Hitze großflächig versiegelter Flächen entgegen - hier muss noch viel passieren.
Dann kreuzt eine Straßenbahn meinen Weg - sie fährt nach Hässlich, äh, Hessisch Lichtenau. Das finde ich aus biografischen Gründen ziemlich interessant und buche meine heutige Entdeckungsreise in der Straßenbahn. Vor 35 Jahren war ich mal bei der Bundeswehr in Hessisch Lichtenau. Das war damals ein ziemlich bizarrer Ort. in der dortigen Kaserne hielten sich damals zwei Bataillone Soldaten auf. Die deutsch-deutsche Grenze war noch existent und keine 20 Kilometer entfernt ‚stand der Russe vor der Tür‘. Die gut 2400 Soldaten verdoppelten die Einwohnerzahl des Ortes mit Leichtigkeit und die Bundeswehr und die angeschlossenen Betriebe waren in dem damaligen Zonenrandgebiet der größte Arbeitgeber des Ortes.
Wie es Tradition bei der Bundeswehr war wurden die Wehrpflichtigen - und alle Anderen - so weit wie möglich entfernt vom Wohnort eingesetzt. Es war damals ein running Gag das Sonntag Abends in den voll gestopften Fernzügen der Bahn junge Männern kreuz und quer durch die Republik gondelten. Und in Kassel Hauptbahnhof hatte es Tradition das der Bus nach Hessisch Lichtenau grundsätzlich nicht auf die überfüllten Fernzüge wartete für die er eigentlich den Anschluss machen sollte. Da passierte es auch schon mal das Sonntag Abends fünfzig Leute dem letzten Bus um halb eins nur hinterherwinken konnten um dann die Nacht bis um fünf auf dem Vorplatz des Kasseler Hauptbahnhofs zu verbringen. Im Winter fuhr dieser Bus auch häufig genug nicht - Hessisch Lichtenau liegt auf einer Geländeerhebung und war immer ganz vorn mit dabei wenn es um den ersten Schnee oder besonders viel davon ging.
Schon damals fragten wir uns, warum eigentlich keine Bahnverbindung nach Hessisch Lichtenau bestand - eine Bahnstrecke gab es ja. Der Bus kreuzte sie auf seiner knapp fünfzigminütigen Fahrt reichlichst. Die Bundeswehr nutzte diese Strecke wenn es darum ging Panzer und Soldatem zum Panzerkriegspielen irgendwo hin zu schaffen. Aber nen lausigen Schienenbus da rüber zu schicken, schien vielen Menschen damals als absolut unnötig.
So stark die Abhängigkeit des Ortes vom Bund auch war - das dazu gehörige Personal wurde offen abgelehnt. Ich erfuhr am eigenen Leib das Menschen die als Soldaten erkennbar waren - an der Frisur oder dem Auftreten in kleinen Rudeln, den falschen Dialekt sprechend - generell nicht in der Eisdiele bedient, gern in Warteschlangen übersehen oder auf der Straße angepöbelt wurden. Der Groll kam nicht von ungefähr. Der Ort hatte damals eine Disco, die vermutlich ihre größten Umsätze mit den Soldaten machte. Der Laden war Mittwoch und Donnerstag Abend proppenvoll mit Männchen unter 25 und die jungen Frauen aus dem Ort kamen da auch hin. Die Soldaten hatten was Praktisches: sie waren sehr freundlich und spendabel gegenüber weiblichen Wesen, und sie wollten nicht mit nach Hause, denn sie hatten um 12 in der Kaserne zu sein. Außerdem haben sich die Meisten von ihnen nicht bis zum Kontrollverlust besoffen - denn auch das kam in der Kaserne nicht gut an. Das machte sie im Gegensatz zur indigenen männlichen Jungend irgendwie sympathisch. An den Beiden Tagen unter der Woche kam es eigentlich nie zu Kontakten mit der männlichen Jugend Hessisch Lichtenaus - die waren am Wochenende in der Disco. So hatten viele der jungen Frauen einen Lover in der Kaserne und noch was ‚Richtiges‘ unter den Eingeborenen. Die waren zwar deutlich stoffeliger als die Soldaten und auch weniger spendabel, aber wohl die schlauere Wahl, weil immer verfügbar, wenn sich was Festeres entwicklen sollte.
Dieses Doppelspiel ging so lange gut bis Soldaten wegen Dienst in der Wache über das Wochenende blieben. Wachwechsel war Samstag Mittag - da machte es für viele keinen Sinn mehr, übers Wochenende nach Hause zu fahren. Stattdessen freuten sie sich darauf, Samstag Abend in die Disko zu gehen und vielleicht die nette Frau wieder zu treffen die sie dort kennengelernt hatten. Doof halt nur, das viele der jungen Frauen am Wochenende anders bespielt wurden und in solchen Situationen zwei unterschiedliche Dimensionen brutal ineinander krachten. Es kam an den Wochenenden wegen genau solcher Konstellationen zu harten Schlägereien in der Disco, Polizei und Feldjägereinsatz und auch schon mal nem Rettungshubschrauber. Wer kennt es nicht? Gemeinsame Wochenenden können halt schnell eskalieren.
Als der eiserne Vorhang fiel änderte sich auch in Hessisch Lichtenau Einiges. Recht schnell fiel unseren Vorgesetzten auf, das eine beschauliche Existenz als Bundeswehrsoldat mit Eigenheim im lauschigen Nordhessen jetzt irgendwie nicht mehr sicher war. In der Kaserne wurde gemunkelt das jetzt ja wohl beide Bataillone an die Polnische Grenze verlegt werden müssten da der Standort in Hessisch Lichtenau obsolet war. Dieses Gemunkel kam auch beim Bürgermeister der Stadt an und bewog ihn, doch tatsächlich beim nächsten Gelöbnis höchstpersönlich aufzutauchen und in einer Rede zu betonen wie toll man das Zusammenleben mit den Soldaten finde und man darauf baue das dieses harmonische Miteinander noch lange andauern würde. Mit Blick auf die eigenen Erfahrungen mit dieser ‚Harmonie‘ haben uns dabei geradezu die Ohren geklingelt. Mir war das damals schon alles egal - ich hatte noch ein halbes Jahr Dienstzeit zu absolvieren, war mir inzwischen darüber im Klaren das ich mit meinem Charakter und meinem Verhältnis zu Hierarchien bei dem Laden mal besser nie etwas verloren hätte. Das Schiff ‚Bundeswehr‘ würde seinen Kurs nicht so schnell ändern das ich davon noch etwas mit bekäme. Ich arbeitete als Versorgungsunteroffizier (Logistiker) in einer Ausbildungskompanie auf dem Gelände der Kaserne. So konnte ich noch die ersten Rekruten aus den neuen Bundesländern erleben. Neben einer damals exotischen Sprachfärbung fielen uns damals sehr viel mehr Menschen mit offen wahrnehmbarer, extrem rechter Gesinnung auf - es wuchs halt zusammen, was zusammen gehörte…
Eigentlich hatte die Führungsetage der Ausbildungskompanie meinem Dienstende entgegen gefiebert - ein legitimer Nachfolger war bereits gefunden und in Warteposition. Der war im Umgang wesentlich höriger als ich. Das er ein paar Monate vor meinem Dienstende ein Krampfleiden entwickelte, was seine Tauglichkeit für meinen Posten fraglich erscheinen ließ, berührte mich nicht mehr. Man hatte mir gegenüber in den vier Jahren meiner Dienstzeit keine Gelegenheit ausgelassen, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Da sollten sie doch sehen wie sie mit dem mühsam aufgebauten Nachfolger klar kämen. Trotz allem entblödete sich mein Spieß beim Abschiedsgespräch nicht, mich zu fragen, ob ich nicht noch ein paar Jahre dran hängen wolle - ich wollte nicht!
Jetzt saß ich also in einer Straßenbahn, die tatsächlich seit 2006 von Kassel aus bis nach Hessisch Lichtenau regulär alle halbe Stunde verkehrte - und das tatsächlich auf der ehemaligen Bahnstrecke. Kassel hat den ÖPNV offensiv in die vorgelagerten Ortschaften ausgedehnt und zeigt damit ein gutes Beispiel wie Anbindung wirklich funktionieren kann. Wenn ich mir vorstelle, das ich halbstündlich in einer halben Stunde nach Kassel hätte fahren können - und das mit einem Verkehrsmittel das von der Straßenlage unabhängig ist - da war damals absolut utopisch!